Erinnern wir uns: Die Verabschiedung des Grundgesetzes datiert vom 23.Mai 1949. Nach Artikel 20 Abs. 1 GG ist die Bundesrepublik Deutschland „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Dieser Artikel bildet maßgeblich den verankerten sogenannten Sozialstaatsgrundsatz der Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland ab.
Die Gründungsväter des Grundgesetzes hatten damit eine Entscheidung für eine gemischte Wirtschaftsverfassung (Wirtschafts- und Sozialordnung) getroffen, die aber keine weiteren signifikanten Aussagen hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der realen Wirtschafts- und Sozialpolitik traf. Nichtsdestotrotz hat sich in der weiteren Entwicklung in Deutschland durch konkrete politische Entscheidungen eine soziale Marktwirtschaft realisiert.
Auf den ersten Konjunktureinbruch in der Geschichte der Bundesrepublik reagierte die Politik 1967 mit dem sogenannten „Stabilitätsgesetz“. Der Staat nahm kurz- und mittelfristige Kredite auf und legte u.a. umfangreiche Konjunkturprogramme auf. Diese Maßnahmen zeigten damals durch einen einsetzenden konjunkturellen Aufschwung den gewünschten stabilisierenden Erfolg.
Auch im Jahr 1973 reagierte die damalige Regierung auf den ersten Ölpreisschock und dem damit einhergehenden konjunkturellen Abschwung mit massiven konjunktur- und wachstumspolitischen Maßnahmen, die vergleichsweise kurz befristet waren und denen es an einer überzeugenden längerfristigen Gesamtkonzeption mangelte.
Ende der siebziger Jahre erfolgten weitere Zukunftsinvestitionsprogramme, die zwar kurzfristige Erfolge zeigten aber die fatale Konsequenz hatten, dass die Staatsverschuldung in schwindelerregende Höhen abdriftete, was sich bis in die heutige Zeit nicht verändert hat – es wurde, verkürzt ausgesprochen - versäumt, rechtzeitig diese Schraube durch den Abbau der Defizite im Staatshaushalt wieder zurückzudrehen1.
Im Vordergrund von Politik stand notwendigerweise in den Folgejahren der Versuch, die Staatsfinanzen durch Entschuldung zu konsolidieren: Sozialabgaben und öffentliche Investitionsvorhaben wurden in Teilen deutlich zurückgefahren ohne gleichzeitig die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zur Schaffung neuer Arbeitsplätze tiefgreifend zu verändern. Dies wiederum hatte zur Konsequenz, dass der zwingend notwendige Abbau von Arbeitslosigkeit nicht eintrat.
Die vergangenen Jahrzehnte in der Bundesrepublik Deutschland haben immer wieder deutlich gemacht, dass, je besser die soziale Marktwirtschaft funktioniert, umso wirkungsvoller und umso mehr Finanzmittel konnten der Sozialen Arbeit und somit auch der Jugendhilfe zur Verfügung gestellt werden.
Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland besteht ein grundsätzlicher „Common sense“ darüber, dass die soziale Marktwirtschaft einen elementaren Bestandteil der Gesellschaftsordnung ausmacht: Wirtschafts- und Sozialpolitik haben einen gleichrangige Bedeutung – nur: Sozialpolitik ist existenziell abhängig von einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik. Dieser Umstand führte in den letzten Jahren dazu, dass heute zwar immer noch von einem gleichrangigen -, nicht aber mehr von einem gleichberechtigten Nebeneinander von Wirtschafts- und Sozialpolitik ausgegangen werden kann.
In Deutschland wird zwischenzeitlich rund ein Drittel des Erwirtschafteten für im weitesten Sinn soziale Zwecke ausgegeben; das waren 2001 immerhin 676 Milliarden Euro oder 8250 Euro pro Kopf der Bevölkerung – Tendenz wegen der rapiden Alterung der Bevölkerung bei weiterer ungesteuerter Entwicklung deutlich steigend2. Dies führt bei gleichzeitig mangelndem Wirtschaftswachstum - da muss man kein Wirtschaftsexperte sein – zwangsläufig zu einem völligen Zusammenbruch der Sozialsysteme.
Die Soziale Arbeit im weitesten Sinn wurde im Nachkriegsdeutschland lange Jahre fast ausschließlich durch die Freie Wohlfahrtspflege dominiert und war von einem Wettbewerb faktisch ausgenommen. Die Sozialorganisationen befanden sich in friedlicher Koexistenz untereinander und dadurch selten in Konkurrenz zueinander; sie durften als gemeinnützige Organisationen Überschüsse erwirtschaften, die wieder in die Organisationen zurückfließen mussten – entstandene Defizite wurden im Rahmen von Verlustausgleichen durch den Staat ausgeglichen; sonstige Einnahmen von gemeinnützigen Organisationen fanden und finden dabei in der Regel keine Berücksichtigung.
Seit längeren Jahren - und nun komme ich langsam zum eigentlichen Thema – versucht Politik durch die Reduzierung der Staatstätigkeit der privaten unternehmerischen Initiative mehr Raum zu geben. Staatliche Markteingriffe sowie Reglementierungen werden verstärkt abgebaut – darüber sollen auch die gesellschaftlich zwischenzeitlich durchaus erkennbaren Fehl-Entwicklungen des Sozialstaates zum Wohlfahrtsstaat gebremst werden.
Spätestens seit Mitte der achtziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts sind deutliche Tendenzen erkennbar, auch in der sozialen Arbeit durch Einführung eines zunehmenden Wettbewerbs und damit einhergehender stärkeren Privatisierung ein Wirtschaftlichkeitsprinzip zu übertragen, dass sich in anderen Bereichen der Privatwirtschaft als überaus erfolgreich erwiesen hat: Der Staat delegiert aus dieser inneren Logik mehr soziale Aufgaben an private Anbieter, die auf dem Markt der Anbieter miteinander konkurrieren.
Zeitverzögert trat diese Entwicklung auch in der Jugendhilfe ein: Selbst wenn vereinzelt die Position bestritten wird halte ich es dennoch für absolut zutreffend, dass durch die Neuregelung des § 78 a ff. SGB VIII und durch das damit im Zusammenhang stehende Drängen von privaten Sozialunternehmen auf den Markt ein zunehmend stärker ausgeprägtes Wettbewerbsdenken eingetreten ist, das politisch so auch gewollt war. Ziel der Neuregelungen durch den massiven Konsolidierungsdruck der kommunalen Haushalte war letztendlich „die Dämpfung der Kostenentwicklung, Schaffung einer stärkeren Transparenz und die Verbesserung der Effizienz der eingesetzten Finanzmittel“
3 Verbunden mit dem Wunsch- und Wahlrecht, der Trägerpluralität und der Prospektivität stieg zwangsläufig und geplant der ökonomische Druck für die Anbieter von Jugendhilfe.
Die zunehmende Bedeutung der Finanzierung der Leistungserbringung durch Entgelte führte zu einer weiteren Aufwertung von privat-gewerblichen Trägern in der Jugendhilfe4 und dadurch natürlich auch zu einem zunehmenden Wettbewerb der verschiedenen Leistungsanbieter untereinander.
Die damit grundsätzlich verbundenen Risiken, auf die eindringlich die Kommission des 11. Kinder- und Jugendberichtes in Abschnitt C.II.3 aufmerksam macht5, sind unverkennbar und grundsätzlich gegeben: Ein ausschließlich preisgesteuerter Kostenwettbewerb könnte in der Tat in der Jugendhilfe zu ruinösen Bedingungen führen und dadurch zu einem inakzeptablen Abbau von Leistungsstandards zum Nachteil der Leistungsberechtigten aber auch von Leistungsanbieter führen.
Hier gilt es mit gemeinsamen Anstrengungen trotz allen Kostendrucks deutlich zu machen: Jugend ist aufgrund der demographischen Entwicklung in Deutschland ein zunehmend (ökonomisch gesprochen) „knappes Gut“, das demzufolge bereits heute einen überaus wichtigen gesellschaftlichen Stellenwert hat und auch haben muss: Die Bereitstellung ausreichender Finanzmittel ist die sich daraus ergebende logische und notwendige Konsequenz.
Die Jugendhilfe trägt über ihr Wirken eine besonders große Verantwortung: Sie stellt ein qualitativ gutes, effizientes und den Interessen der betroffenen Kinder, Jugendlichen und ihren Familien dienendes und wirksames Angebot bereit – das Angebot muss in einer nachvollziehbaren Qualität zu einem transparenten Preis angeboten werden.
Eine ausschließlich fachliche Ausgestaltung dieses Wettbewerbs in der Jugendhilfe ist dabei allerdings, nicht nur unter den gegebenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, ziemlich illusorisch: auch ein fachlich regulierter Wettbewerb wird immer auch den preisorientierten Wettbewerb mit einschließen (müssen).
Ich halte es demnach für ein höchst gewagtes Unterfangen davon auszugehen, dass der Preis und damit die Kosten zukünftig nicht zu einem der wichtigsten (Wettbewerbs-) Faktoren wird - der zukünftige Nutzer im Sozialsektor (egal ob öffentliche Hand oder Privatperson) wird sich sukzessive auch hier in seinem Nutzer-Verhalten nicht von dem bei anderen Dienstleistungen unterscheiden; das heißt: Gute Qualität zu einem angemessenen (marktfähigen) Preis.
Ein wirklicher Wettbewerb bei marktfähigen Dienstleistungen (und große Teilbereiche der Jugendhilfe sind marktfähig) impliziert immer den Qualitäts- und Preiswettbewerb. Mancherorts gehörte Befürchtungen, dass ein so vollzogener Wettbewerb zu einem Qualitätsverlust in der Jugendhilfe führen würde, halte ich für gezielt irreführend und tendenziell, denn: Qualitätsverbesserungen ohne Preiswettbewerb fehlt der wichtige Anreiz. Ziel des eingetretenen Wettbewerbs in der Jugendhilfe muss somit beides sein: die Qualität und der Preis.
Qualitativ hochwertige Angebote in der Jugendhilfe werden dabei auch zukünftig ihren Preis haben. Dieser Preis wird dann auch finanziert werden, wenn die erforderliche Kosten-Transparenz hergestellt ist; genau hier gab und gibt es aber immer noch Nachholbedarf und auch Defizite: bei öffentlichen Trägern im betriebswirtschaftlichen Know-how - bei freien Trägern in der Herstellung von Transparenz ihrer Leistungsangebote.
Mir stellt sich in Bezug auf den 11. Kinder- und Jugendberichts die Frage, was die Kommission bewogen haben mag, von einem (staatlich) fachlich regulierten Qualitätswettbewerb auszugehen - entweder findet ein Qualitätswettbewerb statt oder er findet nicht statt – wozu dann noch weitergehende Regulierungen als die, die ohnehin über die in den jeweiligen Bundesländern geltenden Rahmenverträge gelten? Qualitätsstandards sollten sich primär über den Wettbewerb am Markt verankern und sich nicht auf staatliche Regulierungen stützen.
Warum kann es denn in der Jugendhilfe nicht auch auf Grundlage der vorhandenen Rahmenverträge einen offenen qualitätsgesteuerten Preiswettbewerb oder meinetwegen auch einen offenen preisgesteuerten Qualitätswettbewerb geben?
Private Unternehmen in der Jugendhilfe stehen bereits von ihrem Selbstverständnis dafür ein, unter fachlichen, aber sehr wohl auch unter dem Gesichtspunkt des Kostenwettbewerbs, die Jugendhilfe zu ökonomisieren. Sie definieren und betrachten dabei Jugendhilfe allerdings nicht als gesellschaftliche Last, wie häufig öffentlich dargestellt, sondern als gesellschaftliche Wertschöpfung. Dazu gehört selbstredend auch, dass man sich ökonomisch klar machen muss, welche alternativen Kosten entstünden, wenn die Jugendhilfe ihre Leistungen nicht entsprechend anbieten würde.
Private Anbieter hatten es gesellschaftlich in der Jugendhilfe zunächst schwer, die erforderliche Akzeptanz für ihre Unternehmen mit sozialer Ausrichtung zu erhalten. Häufig aus anderen eher egoistischen Motiven warf man ihnen vor, mit dem Leid von Kindern und Jugendlichen ihre individuellen Finanzinteressen bedienen zu wollen – was für ein Schmarr’n!
Inzwischen ist diesbezüglich ein grundlegender Umdenkungsprozess in großen Teilen der Bevölkerung erfolgt: Jugendhilfe ist eine entgeltpflichtige Leistung, die von qualitativ hochwertigen Trägern erbracht wird. Die Erzielung eines angemessenen Gewinns gehört auch bei Sozialunternehmen selbstverständlich zu den Grundprinzipien und Grundfesten im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft – schließlich gehen auch Unternehmen der Jugendhilfe erhebliche und langfristige finanzielle Pflichten und Risiken ein.
Die teils heftigen, von bestimmten Interessen geprägten Abwehrkämpfe der Vergangenheit sind weitestgehend versiegt – nur Unverbesserliche versuchen immer noch zu verdrängen, dass das Unvermeidliche in der Jugendhilfe nicht aufzuhalten ist:
der ökonomische Geist hat sich sukzessive auch in der Jugendhilfe realisiert – inzwischen sind privat-gewerbliche Anbieter in der Jugendhilfe kaum noch wegzudenken und unverzichtbarer Bestandteil derselben.
Ökonomischen Denken kann und darf auch aufgrund der wirtschaftlichen, demographischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht vor der Produktion sozialer Dienste und Güter in der Jugendhilfe halt machen, will sie nicht die eigenen Angebote gefährden. Zudem hält sich hartnäckig die Meinung, dass private Anbieter effizienter und dadurch ihre Leistungen ökonomischer anbieten können....
Doch ein möglichst günstiges Preisangebot ist in der Jugendhilfe, wie bereits weiter oben genannt, tatsächlich immer nur die eine Seite der Medaille: zunehmende Bedeutung hat zwar der Preis, aber eben auch die Qualität und die Verantwortung der Menschen, denen Kinder und Jugendliche anvertraut werden.
Insofern darf es auch nicht zu einem völlig ungehemmten System von Angebot und Nachfrage kommen (aber wer will das auch?). Die Landesjugendämter als Kontroll- und Beratungsinstanzen wie auch die gültigen Rahmenverträge in den Bundesländern bieten dafür einen wichtigen Schutz und geben Orientierungen.
(Anregung: warum sollte zukünftig nicht auch in der Jugendhilfe aktiv über einen Verbraucherschutz für ihre Leistungsangebote nachgedacht werden?)
Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass ein Systemwechsel hin zu einem Markt jenseits der bisher weitestgehend ausschließlich tätigen freien Wohlfahrtspflege klar erkennbar ist, der nicht nur bereits existiert sondern sich nach meiner festen Überzeugung weiter ausweiteten wird.
Eine zusätzliche Dynamik erhielte dieser Markt, wie es das SGB VIII eigentlich schon jetzt beabsichtigt, wenn die Finanzen zukünftig denen zur Verfügung gestellt würden, die Leistungen der Jugendhilfe in Anspruch nehmen. Dies würde die generelle Umstellung von einer Objekt-Finanzierung hin zu einer Subjekt-Finanzierung notwenig machen - soll heißen, dass der Leistungsberechtigte die Finanzmittel zur Finanzierung der erforderlichen Hilfen erhielte. Dies würde der ihm durch das SGB VIII in § 5 eigentlich ohnehin schon zugewiesenen Subjektrolle als Leistungsberechtigtem endlich die Bedeutung beimessen, die ihm auf Grundlage des Individualisierungsprinzips der Jugendhilfe ohnehin zusteht7.
Dies würde endlich zu der gebotenen Nutzer/innen-Souveränität führen, die der Entwicklung der Jugendhilfe sowohl unter dem Qualitäts- wie auch unter dem Preiswettbewerb einen zusätzlichen Schub gäbe: Menschen (Kunden), die auf die Angebote der Jugendhilfe zurückgreifen müssen oder wollen würden endlich aus ihrer Unmündigkeit befreit. Sie könnten sich unter den zahlreichen Anbietern das Angebot heraussuchen, von deren Leistungs- und Dienstleistungsfähigkeit sie überzeugt sind. Dies hätte eine, aus meiner Sicht zukünftig zwingend notwendige, Umverteilung der sozialen Nachfrager-Macht zu denen, die die sozialen Dienste auch in Anspruch nehmen, zur Konsequenz.
Dieser Schritt bedeutet, den/die Nachfrager/in wahrhaft dadurch ernst zu nehmen, dass seine/ihre derzeitige Entmündigung bei Leistungsansprüchen der Jugendhilfe aufgehoben werden würde - dies einzig und allein führt zu einer wahren Nutzer/innen-Autonomie - es ist höchste Zeit, den Leistungsberechtigten diese Freiheit zu geben!
Die Zeit für diese Souveränität der Nutzer/innen scheint derzeit aber (immer) noch nicht reif – aber sie wird kommen, über kurz oder lang – da bin ich sicher!